Liebes Tagebuch,
hier ist Nico. Ich weiß nicht, ob Du dich an mich erinnern kannst, denn ich habe sehr lange nicht mit dir geschrieben. Ich glaube, dass ich meine Gedanken mit jemanden teilen muss. Ich habe großartige Freunde, eine liebevolle Familie und Geschwister aus dem Bilderbuch, aber ich kann – oder möchte – mich niemanden antrauen. Ich möchte nicht, dass jemand fühlt, wie ich fühle – und – ich möchte niemanden mit meiner eigenen Stimme sagen, was in mir vorgeht.
Die letzten Monate waren für mich die Hölle. Es gab so viele Momente, in denen ich meinem Leben einfach ein Ende setzen wollte. Doch wie es im Leben so ist, gibt es im Leben auch Momente, in denen alles gut läuft. Und dort habe ich dann wieder einen Sinn in meinem Leben gesehen. Doch jetzt, liebes Tagebuch, sind meine Kräfte aufgebraucht. Ich kann nicht mehr. Für jedes Stück Glück, dass mir wiederfährt, fällt eine ganze Mauer auf mich herab.
Sie zerdrückt mich und reißt mich in tausend Stücke, die sich nicht mehr zusammen setzen lassen. Ich sehe keinen Sinn mehr in Gesprächen; ich sehe keinen Sinn mehr darin, Menschen zu treffen, soziale Kontakte zu knüpfen oder zu halten.
Meine Gespräche werden immer kürzer; Meine Mimik kennt nur noch wnige Ausdrücke und ich kenne immer weniger Gefühle. Mir fehlt die Menschlichkeit. Ich habe Sie in den letzten Monaten schlichtweg verloren. Ich vertraue so gut wie keiner Seele mehr – inklusive meiner. Ich fühle mich von der Welt verlassen – zurück gelassen. Während jeder sein Glück findet, seine große Liebe kennenlernt oder sich sein Traumleben aufbaut, degeneriere ich immer mehr zu einer leeren Hülle.
Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal langfristig glücklich war – oder – Glück für mehr als einen Moment empfunden habe. Und als würde das nicht reichen, muss ich auch noch Probleme auf mich nehmen, für die ich weder etwas kann, noch gegen die ich etwas tun könnte.
Meine Mama zum Beispiel, legt ihre Last auf mich. Immer in kleinen Zügen, bis sie mich letztens für ihre Nahezu-Insolvenz verantwortlich machte. Mama ist seit einem Jahr wegen der Familienkasse beim Anwalt. Jetzt erhielt sie Ihren Zahlungsbescheid und sollte mehrere tausend Euro zurück zahlen. Und verantwortlich dafür bin ich – schließlich habe ich das Geld zum Leben bekommen.
Die Logik dahinter kann ich ja nahezu verstehen, aber seit wann bin ich für den Papierkram meiner Mutter zuständig, die seit über sieben Jahren getrennt von mir wohnt. Ich kann meine Mutter nicht verwalten – vor allem nicht aus der Ferne. Aber da hört es nicht auf, liebes Tagebuch, dort fängt es gerade erst an.
Wie du weißt, hat mein Papa einen inoperablen Hirntumor. Das heißt, dass ich gar nicht weiß, wie lange ich überhaupt noch mit Papa hab. Aber nutzen kann ich die Zeit auch nicht, denn Mama hat gesagt, dass Papa wegen der Sache mit der Familienkasse unfassbar böse mit mir ist – wegen einer Sache, für die ich immernoch nichts kann.
Als Mama her kam, ich dachte, wie üblich zum Kaffee trinken, und mir das mit der Familienkasse zur Last legte, sagte Sie mir, dass Papa gedroht hätte, dass er “vor meiner Tür auftauchen wird”, wenn ich das nicht klären würde. Im gleichen Atemzug stellte mir Mama eine Spardose auf den Tisch und sagte “Egal wie, aber du wirst ununterbrochen jeden Monat 50 Euro hier rein tun. In genau 44 Monaten werde ich diese Spardose abholen und wehe Sie ist nicht mit genau diesem Betrag gefüllt.”
Am Folgetag rief Sie mich an, um mir zu sagen, dass Luna an einem geplatzten Lungenkarzinom auf dem Weg zum Tierarzt verstorben ist, weil Sie innerlich verblutete. Im nächsten Atemzug fragte Sie mich, ob ich schon die 50 Euro in den Sparpott gepackt habe mit dem Nachdruck “Ich muss dich das fragen” – Nein, Mama, solltest du nicht. Du solltest fragen, wie es mir geht, fragen ob ich an Selbstmord denke, nachdem ich dir das gestern anvertraur habe und mich trauern lassen.
Geld ist eine Sorge, ja, aber sollte Mama mich nicht fragen, ob ich etwas versucht habe oder ob es mir gut geht? Oder – was ich denke – habe ich wieder einen Menschen verloren, der mich lebt, wie es in meinem Leben mittlerweile zum Standard geworden ist? Ich glaube, dass ich Menschen kennenlerne, nur um von Ihnen verlassen zu werden.
Und das, liebes Tagebuch, ist gerade einmal die Spitze des Eisbergs. An meine letzten Seiten vor fast 10 Jahren kannst du dich ja noch erinnern. Damals habe ich dir jeden Tag geschrieben, dass ich mich einsam fühle. Ich glaube seit damals hat sich das nicht verändert, sondern wenn überhaupt verschlimmert.
Ich dachte immer, Jeder hat das Anrecht auf Liebe und Zuneigung – “zu jedem Topf gibt es den passenden Deckel”. Aber mittlerweile glaube ich – schon sehr lange – dass für einige Menschen einfach keine Liebe übrig ist oder eingeplant wurde. Das Menschen wie ich keine Liebe verdient haben. Ich glaube mittlerweile wirklich, dass ich nicht einmal als ein Mensch oder jemand mit Gefühlen angesehen werde.
Ich sage immer, dass es mir egal ist, was Menschen zu mir sagen oder wie sie sich über mich unterhalten; wie sie mich ansehen. Aber damit lüge ich – wohl mir zuliebe. Aber es verletzt mich sehr – es schmerzt an Stellen, wo ich es niemals für möglich gehalten habe. Als würden meine Innereien jedes Mal ein bisschen verbrennen. Und das ich keinen liebevollen Menschen neben mir habe, der mich verliebt ansieht und sagt, dass ich mich nicht darauf einlassen soll, schmerzt noch mehr.
Ich mag alleine nicht heraus gehen, ich mag nicht alleine einkaufen, im Psychiater- oder Ärztewartezimmer warten. Nicht einmal zur Apotheke um die Ecke mag ich gehen, um die Medikamente abzuholen, die mich am Leben halten, glücklich und schläfrig machen sollen. Und genau als ich das getan habe, vor wenigen Tagen; nur schnell zur Apotheke Medikamente abholen, unterhielten sich lautstark Menschen – bis ich auf die Bildfläche trat. Ich hatte Makeup auf und trug mein “EQUALITY”-Shirt von H&M. Und als ich an Ihnen vorbei ging, hat ein Mann gefragt, was ich “für ein Ding” sei. Ich hätte die Frage
nach Mann oder Frau noch irgendwie verstehen können, aber in seinen Augen war ich nicht mal ein Mensch, sondern ein Objekt. Alle lachten lautstark und drehten sich nach mir um. In der Apotheke eingetreten, habe ich zwei oder drei Tränen fallen lassen, bis die freundliche Bedienung kam und ich meine Tränen unterdrücken musste.
Auf dem Rückweg riefen Sie mir allerlei schlimme Dinge zu. Ich war nicht in der Lage, mich zu verteidigen – und andere taten es ebenso nicht. Und als ich heute Trinken und Brötchen bei LIDL kaufte, wurde ich – kein Scherz, liebes Tagebuch – von gleich fünf Männern lautstark und offensichtlich verfolgt. Sie hatten viel Spaß daran und waren niemals mehr als zwei bis drei Schritte von mir entfernt.
Das war das erste Mal seit langem, dass ich beim einkaufen Angst hatte. Und ich hatte Angst, mich zu verteidigen oder etwas zu tun. Und die anderen Menschen schauten wie gewohnt einfach weg. Es war bei weitem nicht das erste Mal, dass ich beim einkaufen oder alltäglichen Dingen Angst haben musste, Aber das war ein sehr intensives Erlebnis.
Da verstehe ich auch, warum mich niemand liebt oder lieben kann. Wenn mich alle Menschen nur als lebloses, mit Farbe eingehülltes Objekt sehen, ist es wohl unmöglich, die wahre Lieben zu finden – oder überhaupt Liebe.
Immer wieder muss ich es über mich ergehen lassen, 1) von Fahrradfahrern beim vorbei fahren in der Innenstadt als “dreckiger Hurensohn” oder “widerlich” bezeichnet zu werden, 2) beim einkaufen verfolgt und durch die Gänge hindurch beleidigt zu werden oder 3) über mich ergehen lassen, dass ein junger und mir bekannter Mann seinen Kumpgel anstupst, um durch den Kassenbereich zu rufen “das ist keine Frau!”, während die gesamte Umgebung stumm wird und mich ansieht, während die Kassiererin kurz stoppt und danach lautlos weiter kassiert, als wäre nichts passiert.
Kein Mensch sollte so etwas erleben, doch für mich ist es der Alltag geworden, mit dem ich mich wohl Zitat “abfinden muss” – weil ich der Mensch bin, der ich sein will – oder sein wollte.
Denn ich habe keinerlei Spaß mehr an Makeup. Ich habe es geliebt, mich zu schminken, wenn ich traurig oder hoffnungslos bin. Ich liebe Makeup und mein ganzes Leben dreht sich darum, doch mittlerweile finde ich keinen Spaß mehr darin. Ich finde keine Kraft, aufzustehen und mich für mich selbst fertig zu machen.
Ich fühle mich Tag ein, Tag aus erschöpft. Keine Menge an Schlaf genügt mir, ich esse nur aus Gewohnheit, nicht aus Hunger. Mir ist jeden Tag ausnahmslos schlecht. Ohne meine Reisetabletten würde ich warscheinlich nur noch brechen. Die Migräne bringt mich um und ich tue nichts anderes, als zu schlafen, weil mir für alles andere die Kraft fehlt.
Und auch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir haben nicht einmal den ersten Zentimeter des Meterhohen Bergs angekratzt. Doch mehr Gedanken frei zu geben, traue ich mich derzeit nicht, liebes Tagebuch.
Danke, dass du mir immer zuhörst.
Aus dem Wayback Machine Archiv.
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